Im professionellen Ausdauersport hat sich in den letzten Jahrzehnten eine grundlegende Veränderung vollzogen – besonders in der Art und Weise, wie Athleten ihre Energieversorgung steuern. Noch in den frühen 2010er Jahren galt es als normal, lange Einheiten mit geringer Kohlenhydratzufuhr zu absolvieren. Man war überzeugt, dass der Körper durch die reduzierte Verfügbarkeit von Kohlenhydraten lernt, effizienter auf Fette als Energiequelle zurückzugreifen – eine Strategie, die als "Train Low" bekannt wurde.
Ein Beispiel für diesen alten Ansatz findet sich im Straßenradsport. Noch bis vor wenigen Jahren haben Profis bei langen Trainingseinheiten kaum Kohlenhydrate zu sich genommen. Die Annahme war, dass sich dadurch die Fähigkeit zur Fettverbrennung verbessert und die Glykogenspeicher geschont werden. Doch mittlerweile wissen wir: Dieser Ansatz hat nicht nur klare Leistungsnachteile, sondern kann langfristig auch die Regeneration verschlechtern und die Anpassungsfähigkeit des Körpers einschränken.
Heute hat sich das Bild radikal gewandelt. Im modernen Radsport liegt der Fokus darauf, während intensiver Einheiten und Rennen so viele Kohlenhydrate wie möglich aufzunehmen. Profis konsumieren heute im Wettkampf teilweise deutlich über 100 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde – etwas, das vor 15 Jahren noch als völlig übertrieben galt. Doch die Wissenschaft zeigt eindeutig: Mehr verfügbare Kohlenhydrate bedeuten mehr Leistung, bessere Erholung und eine höhere Trainingsqualität.
Doch was bedeutet das für Amateure? Hier hält sich das alte Low-Carb-Dogma nach wie vor hartnäckig. Viele Hobbysportler haben das Gefühl, dass eine hohe Kohlenhydratzufuhr nur für Profis notwendig ist und für sie selbst nicht relevant sei. Doch genau hier liegt ein großes Missverständnis. Kohlenhydrate sind nicht nur bei intensiven Wettkämpfen entscheidend – sie spielen auch bei längeren Einheiten und hoher Wochenbelastung eine zentrale Rolle.
Jede Muskelkontraktion benötigt Energie – und diese kommt primär aus zwei Quellen:
Kohlenhydrate (Glykogen, Blutzucker)
Fett (gespeicherte Fettsäuren, intramuskuläres Fettgewebe)
Während Fette eine hervorragende Energiequelle für niedrige Intensitäten sind, haben sie einen gravierenden Nachteil: Sie liefern Energie nur langsam. Sobald eine Belastung höher wird, ist der Körper auf Kohlenhydrate angewiesen, da sie schneller in Energie umgewandelt werden können.
Eine unzureichende Kohlenhydratzufuhr führt zu einer schnelleren Erschöpfung, weil:
Der Körper verstärkt Proteine (Muskelgewebe) zur Energiegewinnung heranzieht.
Die Intensität nicht gehalten werden kann, weil die ATP-Bereitstellung über Fette zu langsam ist.
Der zentrale Ermüdungseffekt im Gehirn einsetzt und die Konzentration leidet.
Deshalb gilt: Je intensiver die Belastung, desto mehr Kohlenhydrate werden benötigt.
Marathonläufer wie Eliud Kipchoge, der als erster Mensch die 42,195 km unter zwei Stunden lief, setzen während des Rennens auf eine exakt geplante Kohlenhydratzufuhr von ca. 100 g/h, um die Leistung hochzuhalten. Das Gleiche gilt für Radsportteams wie Jumbo-Visma, die heute in der Tour de France darauf achten, dass ihre Fahrer während der Etappen kontinuierlich Kohlenhydrate zuführen, um eine optimale Leistungsfähigkeit zu gewährleisten.
Kohlenhydrate bei moderaten Belastungen: Warum sie auch bei längeren Ausdauertrainings wichtig sind
Viele Amateure gehen davon aus, dass sie nur dann Kohlenhydrate benötigen, wenn sie hochintensive Intervalle fahren oder einen Wettkampf bestreiten. Doch das ist ein Trugschluss.
Selbst bei moderaten Belastungen von über 75 Minuten Dauer spielen Kohlenhydrate eine entscheidende Rolle:
Glykogenspeicher werden auch bei niedrigen Intensitäten langsam entleert.
Bei steigender Ermüdung sinkt die Effizienz der Muskelkontraktionen, was zu einem höheren Energieverbrauch führt.
Die Regeneration wird deutlich verbessert, wenn nach dem Training schnell Kohlenhydrate bereitstehen.
Viele Amateure trainieren mehrere Stunden pro Woche – oft mit Einheiten von 2–3 Stunden auf dem Rad oder über 90 Minuten beim Laufen. Auch wenn diese Einheiten nicht hochintensiv sind, bedeutet das: Die Glykogenspeicher werden teilweise geleert und müssen wieder aufgefüllt werden.
Die Wissenschaft dazu
Eine Studie von Cermak et al. (2019) zeigt, dass eine moderate Kohlenhydratzufuhr selbst bei niedrigen Intensitäten die Enzymaktivität für aerobe Kapazität steigert.
Burke et al. (2020) fanden heraus, dass eine unzureichende KH-Versorgung während des Trainings die Fähigkeit des Körpers reduziert, sich an hohe Trainingsvolumina anzupassen.
Viele Athleten unterschätzen die negativen Auswirkungen eines chronischen Kohlenhydratdefizits:
Schlechtere Regeneration:
Unzureichende Glykogenspeicher verlängern die Regenerationszeit erheblich.
Muskelabbau wird begünstigt, weil der Körper Proteine zur Energiegewinnung nutzt.
Langfristige Ermüdung & Übertraining:
Chronisch niedrige KH-Zufuhr führt zu hormonellen Dysbalancen.
Die Immunabwehr wird geschwächt – Athleten, die dauerhaft mit leeren Speichern trainieren, haben eine höhere Infektanfälligkeit.
Leistungsabfall in langen Einheiten:
Selbst bei niedrigen Intensitäten (GA1) über 2 Stunden geht die Leistung ohne Kohlenhydrate deutlich zurück.
Ohne ausreichende KH-Zufuhr werden wichtige mitochondriale Anpassungen unterdrückt.
1. Hoher Wochenumfang = hoher Kohlenhydratverbrauch – auch bei niedrigen Intensitäten
Viele Hobbysportler gehen davon aus, dass ihr Kohlenhydratverbrauch bei rein aeroben Trainingseinheiten mit niedriger Intensität (GA1) minimal ist. Das stimmt allerdings nur für isolierte kurze Einheiten. Wer jedoch regelmäßig trainiert und ein hohes wöchentliches Volumen absolviert, verbraucht über die Woche hinweg eine erhebliche Menge an Kohlenhydraten – auch bei scheinbar lockeren Einheiten.
Beispiel: Ein ambitionierter Radfahrer mit 15 Stunden Training pro Woche
5x GA1-Einheiten à 3 Stunden bei 180 Watt
2x intensivere Einheiten mit Intervallen (Sweet Spot, VO2max)
Selbst wenn er während des GA1-Trainings nur 30–40 % seiner Energie aus Kohlenhydraten bezieht, summiert sich das:
3 Stunden GA1-Training verbrennen ca. 2000 kcal
Davon ca. 600–800 kcal aus Kohlenhydraten → entspricht 150–200 g Kohlenhydraten pro Einheit
Über die Woche kommt er damit allein in den Grundlageneinheiten auf 750–1000 g verbrauchte Kohlenhydrate – und das ohne die intensiveren Einheiten!
Fazit:
Auch wenn sich eine Einheit für sich genommen „locker“ anfühlt und wenig Kohlenhydrate verbraucht, sorgt die Summe des Trainings über eine Woche hinweg für eine erhebliche Entleerung der Glykogenspeicher. Wer hier nicht auf eine adäquate KH-Zufuhr achtet, läuft Gefahr, in einen schleichenden Energiemangel zu geraten.
2. Der Fettstoffwechsel wird trotz Kohlenhydratzufuhr trainiert – ein physiologischer Mechanismus
Ein weiteres Missverständnis ist die Annahme, dass nur komplett „nüchtern“ trainierte Einheiten den Fettstoffwechsel fördern. Tatsächlich tritt eine verstärkte Fettverbrennung auch dann ein, wenn Kohlenhydrate während des Trainings konsumiert werden – insbesondere bei sehr langen Belastungen.
Der physiologische Prozess
Während der ersten Stunden einer langen Einheit (> 2–3 h) nutzt der Körper einen Mix aus Fett und Kohlenhydraten als Energiequelle.
Je länger die Belastung andauert, desto stärker leert sich der Glykogenspeicher.
Sobald die KH-Speicher unter einen kritischen Punkt fallen, erhöht sich automatisch die Fettverbrennung – unabhängig davon, ob der Athlet Kohlenhydrate zugeführt hat oder nicht.
Das bedeutet: Selbst wenn 90 g KH pro Stunde konsumiert werden, reicht das nicht aus, um den Verbrauch vollständig zu decken – der Körper greift zunehmend auf Fette zurück.
Beispiel: Ein Marathonläufer bei einer langen Trainingseinheit (30 km Lauf)
Die ersten 20 km läuft er mit stabilen KH-Speichern und einer Mischverbrennung aus Fett & KH.
Ab Kilometer 20 beginnt die Glykogenverfügbarkeit drastisch zu sinken, auch wenn er während des Laufs 60 g KH/h zugeführt hat.
Der Körper kompensiert dies mit einer verstärkten Fettverbrennung – der Fettstoffwechsel wird trotz Kohlenhydratzufuhr intensiv trainiert.
Dieser Prozess tritt besonders in den letzten 30–60 Minuten einer langen Einheit auf.
Fazit:
Eine hohe KH-Zufuhr schränkt den Fettstoffwechsel nicht aus – im Gegenteil: Bei sehr langen Einheiten wird der Fettstoffwechsel zwangsweise trainiert, da die KH-Speicher im Laufe der Zeit immer weiter absinken.
3. Glykogenverarmung am Ende einer Trainingswoche – Training mit teilentleerten Speichern
Ein dritter Punkt, der oft übersehen wird: Auch mit einer durchdachten Kohlenhydratzufuhr ist es kaum möglich, den Speicher in einer Woche mit hohem Trainingsvolumen komplett gefüllt zu halten.
Der physiologische Prozess
Die Glykogenspeicher benötigen oft 24–48 Stunden, um sich vollständig zu regenerieren.
Wenn ein Athlet mehrere Tage hintereinander hohe Umfänge trainiert, wird er irgendwann mit teilentleerten Speichern in die nächste Einheit starten.
Das bedeutet: Auch wenn Kohlenhydrate gegessen werden, startet die nächste Einheit mit niedrigerer KH-Verfügbarkeit – und der Körper ist gezwungen, vermehrt auf Fett zurückzugreifen.
Beispiel: Ein ambitionierter Triathlet in einer harten Trainingswoche
Montag: 3h GA1-Radfahren → KH-Speicher teilentleert
Dienstag: 1h Intervalltraining (VO2max) → KH-Speicher weiter reduziert
Mittwoch: 2h Laufen → KH-Speicher nicht vollständig regeneriert, da tägliches Training stattfindet
Donnerstag: 4h lockere Radausfahrt → Diese Einheit wird mit einer gewissen Glykogenverarmung gefahren, wodurch der Körper mehr Fette nutzen muss
Fazit:
Selbst bei einer kohlenhydratreichen Ernährung entstehen im Laufe einer intensiven Woche immer wieder Phasen der Glykogenverarmung – und genau das ist ein physiologisch sinnvoller Reiz! Der Fettstoffwechsel wird dadurch automatisch trainiert – ganz ohne bewussten Low-Carb-Ansatz.
Auch bei niedriger Intensität summiert sich der Kohlenhydratverbrauch über eine Woche – wer das ignoriert, riskiert schleichende Erschöpfung und Leistungseinbußen.
Lange Einheiten trainieren den Fettstoffwechsel automatisch – selbst wenn während des Trainings Kohlenhydrate konsumiert werden.
In Wochen mit hohem Volumen kommt es zwangsläufig zu Phasen mit teilentleerten Speichern – wodurch der Fettstoffwechsel regelmäßig aktiviert wird.
💡 Was bedeutet das für Amateure?
➡ Wer langfristig seine Leistung verbessern will, sollte keine Angst vor Kohlenhydraten haben.
➡ Low Carb ist nicht notwendig, um den Fettstoffwechsel zu trainieren – er wird durch cleveres Training ohnehin gefördert.
➡ Die beste Strategie ist eine periodisierte Kohlenhydratzufuhr: Viel KH für harte Einheiten, ausreichend für lange Sessions und eine durchdachte Regeneration über die Woche.